
Urban Gardening entwickelt sich vom hippen Gartentrend für umweltbewusste Städter zu einem echten Zukunftsthema. Wir beleuchten aktuelle Tendenzen – von strategischer Stadtbegrünung bis hin zur urbanen Selbstversorgung.
An einer der Bretterwände hängt ein Saatgutautomat, der in seinem ersten Leben ein Zigarettenautomat war. Nun kann man sich hier mit Tomaten- oder Möhrensamen eindecken. Aus einem mit Neonfarben besprayten Autowrack lugen Wiesenblumen, knallige Ranunkeln und ein Zierbäumchen hervor. Eine ausrangierte Badewanne dient als Wassertonne, daneben lädt die Terrasse aus alten Brettern zum Verweilen ein. Der Blick wandert über zahlreiche Gemüse- und Blumenbeete, sorgfältig mit alten Pflastersteinen aus Granit eingefasst. Silvia Appel, mittlerweile hauptberufliche Bloggerin und Urban Gardening-Expertin, führt voller Stolz durch das 1.800 Quadratmeter große Areal. Die „Stadtgartenschau“ ist ein Gemeinschaftsprojekt des Campus Gartens der Uni Würzburg und des Vereins „Stadtgärtner Würzburg“ im Rahmen der Landesgartenschau. „Hier wollen wir zeigen, wie man mitten in der Stadt mit einfachsten Mitteln ein grünes Paradies für Menschen, Tiere und Pflanzen schaffen kann. Für die Gestaltung des Gartens standen uns lediglich 5.000 Euro zur Verfügung, dafür steckt aber wahnsinnig viel Herzblut drin. Aus dem Sperrmüll der umliegenden Baustellen haben wir unsere Hochbeete zusammengezimmert. Die Hecke entstand aus Bäumen, die auf dem Gelände überzählig waren. Und da der Boden extrem steinig ist, war uns schnell klar, was wir als Wegbegrenzung verwenden“, erzählt die junge Frau, die ihren Job als SEO-Spezialistin zugunsten ihrer Gartenleidenschaft an den Nagel gehängt hat. „Bei den Besuchern kommt unser Areal sehr gut an.“ Sogar die Stadt bezuschusst jetzt Stadtgärtner mit einem kommunalen Förderprogramm. Bis zu 1.500 Euro gibt es für die Begrünung von Hauswänden oder Dächern. Schließlich sind solche Grünflächen „natürliche Klimaanlagen“. Sie sparen bis zu 10 Prozent Energie, weil sie im Winter als zusätzliche Wärmedämmung und im Sommer als Hitzeschutz dienen. Und auch die Luft in der Stadt wird so besser.
Öffentliche Mittel fürs urbane Grün
Der Trend, urbanes Gärtnern staatlich oder kommunal zu fördern, hat auf der ganzen Welt Vorbilder. Schon 2016 beschloss Paris, eine Stadt mit extrem wenig Grünflächen, 100 Hektar öffentlichen Raum für das städtische Gärtnern freizugeben. Das Ziel: Bis 2020 soll insgesamt ein Drittel aller Grünflächen nach Lust und Laune bepflanzt werden dürfen. Das größte städtische Förderprogramm hat New York bereits Ende der 1970er-Jahren auf die Beine gestellt. Die Stadt gilt als Keimzelle des Urban Gardening-Trends. Was hier mit illegal über Zäune geworfene Samenbomben begann, hat sich über zahlreiche Workshops und Gemeinschaftsgärten als wichtiger Baustein einer grünen Infrastruktur etabliert. Neue Erholungs- und Beteiligungsräume für die Menschen in der dichtbesiedelten Stadt sind entstanden.
Urbane Farmen florieren
Diese Entwicklung hat nicht nur ökologische, soziale, infrastrukturelle und wirtschaftliche Gründe. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft schätzt, dass angesichts der steigenden Bevölkerungszahl die Agrarproduktion bis 2050 um rund zwei Drittel gesteigert werden müsste. Pro Kopf werden im weltweiten Durchschnitt dann nur noch 1.500 Quadratmeter Agrarfläche zur Verfügung stehen. 1970 waren es mit 3.205 Quadratmetern noch mehr als das Doppelte. Urbane Dachfarmen oder komplette Hochhausplantagen könnten Abhilfe schaffen. Beispiel New York: Das weltgrößte Urban Farm-Projekt ist die Brooklyn Grange mit etwa 6.000 Quadratmetern Anbaufläche auf zwei Dächern und einem jährlichen Ertrag von fast 23 Tonnen biologisch erzeugtem Gemüse. Die Initiative hält außerdem zahlreiche Bienenvölker auf den Dächern der Stadt. Auch Singapur, eine der am dichtesten bevölkerten Großstädte auf dem Globus, besitzt Vorzeigeprojekte: zum Beispiel den laut Guiness Buch der Rekorde größten vertikalen Garten der Welt an der Fassade eines Hochhauses. Das „Tree House“ erstreckt sich über 2.300 Quadratmeter und 24 Stockwerke.
Acker im Wolkenkratzer
Das Stichwort heißt Vertical Farming: Künftig könnten urbane Wolkenkratzer als riesige Gewächshäuser zur Ernährung der Bevölkerung in städtischen Ballungsräumen beitragen. Zum Beispiel Hochhausfarmen für Salat und Gemüse, die direkt aus dem Wasser ragen. Das Projekt Floating Vertical Farms wird derzeit in Singapur geplant. Eine andere Idee für großen Ertrag auf kleinen Flächen sind drehbare Aluminiumtürme mit Pflanzgefäßen, die im Vergleich zur selben Erntefläche am Boden das Zehnfache an Ertrag bringen sollen. Die Firma „Sky Greens“ möchte solche Türme auf Dächern in ganz Singapur installieren und das Gemüse dann über örtliche Lebensmittelhändler vertreiben. Sogar der Reisanbau könnte bald in eigens dafür geplanten Hochhäusern stattfinden. Ein entsprechendes Forschungsprojekt läuft an der Universität Hohenheim unter dem Namen Skyfarming.
Virales Gärtnern
Gärtnern in der Stadt ist ein großes Thema in digitalen Communities. Wie groß das Interesse in der Bevölkerung ist, zeigen zahlreiche Blogs. „Mit dem Begriff Urban Gardening können mittlerweile ganz viele Menschen etwas anfangen. Sie wissen auch, dass das ein wichtiges Zukunftsthema ist. Wurde man vor ein paar Jahren noch als grüner Hipster belächelt, ist das Thema nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Auch im Rahmen der internationalen Bemühungen gegen die Klimaerwärmung erhält es immer mehr Aufmerksamkeit“, meint Silvia Appel. Die Würzburgerin spricht aus Erfahrung, schließlich stößt ihr eigener Blog www.garten-fraeulein.de auf so reges Interesse, dass sie mittlerweile zwei Bücher zum Thema veröffentlicht hat. Je abstrakter der Berufsalltag vieler Menschen wird, desto größer ist ihre Sehnsucht nach dem direkten Kontakt mit der Natur. „Eigenes Gemüse zu ernten oder auch nur ein paar Blumen der Saison auf dem Balkon zu haben, tut vielen ungemein gut“, sagt die Bloggerin. Deshalb gibt es auch immer mehr Urban Gardening-Vereine. Mehr und mehr Start-ups entdecken, dass Grün guttut und schaffen mit bepflanzten Terrassen oder Balkonen Erholungsräume für ihre Mitarbeiter. Die Stadt der Zukunft verspricht grün statt grau zu sein.